Sie sahen sich sofort, als er hereinkam. Sie war schon länger da gewesen, saß in netter Runde, plauderte angeregt. Die Blicke trafen sich, verharrten einen Moment. Die Freunde an ihrem Tisch bemerkten den Blick, wandten sich ebenfalls zur Tür. Sie sahen, dachten sich ihren Teil, sahen zu ihr, grinsten ein wenig.
Die Blicke der beiden trennten sich, als er vom Gastgeber begrüßt wurde. Sie nahm ihre Gespräche wieder auf. Sie hatten ihr Vorgehen nicht besprochen, dieses Thema tunlichst vermieden, was sonst gar nicht ihre Art war. Beide wussten, dass es gefährlich werden konnte, beide hatten Angst davor.
Deshalb vermieden es beide, sich näher zu kommen. Nie wurden sie gemeinsam in einer Gesprächsrunde gesehen. Nur die Blicke, die trafen sich immer wieder. In diesen Momenten versank die Welt um die beiden ins Nichts. Obwohl sie sich körperlich nicht näher als ein paar Meter kamen, waren sie sich in diesen Momenten unheimlich nahe, kommunizierten ohne Worte.
Ihre Blicke blieben nicht unbemerkt. In vielen Gesichtern war ein Grinsen zu sehen, stumme, viel sagende Blicke wurden umher geworfen. Manche blickten auch missbilligend. Wenn sich der Blick der beiden erneut getrennt hatte, wurden ihnen verständnisvolle, auffordernde, warnende und wissende Blicke zugeworfen. Keiner wagte es, das Gedachte laut auszusprechen, den Bann zu brechen.
So ging es den ganzen Abend. Die beiden hielten es irgendwann nicht mehr aus, setzten sich mit dem Rücken zueinander, konnten sich nicht mehr in die Augen sehen, wollten sich nicht mehr weiter quälen. Das Wissen der körperlichen Nähe, die noch nie zuvor gespürt, aber schon so oft sehnsüchtig herbeigesehnt wurde, obwohl verboten, eigentlich nicht gewollt, aber in der Fantasie schon oft erlebt, quälte die beiden schon genug. Doch sie lauschten, versuchten des anderen Stimme aus dem Meer der anderen herauszufischen. Sie hörte sein dunkles Lachen, das ihr wie ein wohliger Schauer den Rücken hinunterfuhr. Er hörte, wie sie eine lustige Geschichte aus dem Chat zum besten gab, während die anderen lauschten.
Als die Besucher immer mehr und der Abend immer lauter wurde, gelang es ihnen kurzzeitig fast, ihre Sehnsucht, ihre Anwesenheit zu vergessen, die anderen versuchten, sie dabei zu unterstützen. Und doch gelang es nicht.
Der Abend schritt voran. Sie verließ den Nebenraum der Gaststätte, in der sie sich zu diesem Chattertreffen getroffen hatten, suchte die Damentoilette auf. Blickte sich dort lange vor dem Spiegel in die Augen.
Sie verließ den Raum, der sich im Keller des Lokals befand und traf auf ihn. Beide verharrten, hielten in ihren Bewegungen inne. War es Absicht oder Zufall, dass sie sich hier trafen? Egal, jetzt waren sie allein, blickten sich abermals an, hatten diesmal aber nicht die anderen um sich, die ihnen eine gewisse Sicherheit gegeben hatten.
Es verging eine Minute, die den beiden wie eine Ewigkeit erschien. Beide durchlebten ein Gefühlschaos. Die Spannung war greifbar. Wer zuerst gezuckt hatte, wusste später keiner mehr. Sie fielen sich in die Arme, spürten einander zum ersten Mal. Sie vergrub sich in seinen Arm, saugte seine Nähe, seinen Geruch auf. Er umfing sie, fühlte sie. Eine stille Umarmung, voller Sehnsucht. Die Herzen schlugen im Einklang. Wie lange hielt es an? Eine Sekunde oder für immer und ewig? Es war nicht wichtig. Sie kämpfte gegen den Drang an, vor ihm auf die Knie zu sinken, wie sie es im Chat, rein virtuell, schon so oft getan hatte. Er kämpfte gegen den Drang, sie in Besitz zu nehmen, seine Macht über sie, der er sich wohl bewusst war, auszunutzen.
Wiederum bewegten sie sich gleichzeitig, wie auf eine geheime Absprache, lösten sich etwas voneinander, blickten sich tief in die Augen. In beiden Gesichtern war der gleiche Ausdruck zu lesen. Voller Shnsucht und doch auch mit dem Gefühl, dass es nicht weitergehen durfte. Kein Wort fiel zwischen den beiden, sie wussten, was der andere fühlte und dachte.
Er zog sie ein letztes Mal an sich heran, streichelte ihr über das Haar. Jeder nahm den Augenblick tief in sich auf, bewahrte ihn als kostbaren Schatz. Sie lösten sich vollständig voneinander. Ein letzter Blick, eine letzte Berührung ihrer Hände, und jeder ging seinen eigenen Weg. Heim zu ihren Partnern, die sie trotz alledem ebenfalls liebten. In einem anderen Leben, zu einer anderen Zeit, wären sie wohl zusammen gekommen. Aber so gingen sie in dem Bewusstsein auseinander, dass zu jedem Topf mehrere Deckel passen. Erst lange Zeit später würden sie dies als Geschenk erkennen. Im Moment schmerzte es nur einfach.
© Devana Remold